Die Finanzkrise begann vor vierJahren als „Subprime-Krise“ aufdem US-Hypothekenmarkt. US-Banken hatten breiten Schichten
ohne Eigenkapital auf Kredit Häuser verkauft.
Das Modell, bei dem gute mit schlechten
Schuldpapiere vermischt und international
weiterverkauft werden, kommt ins Stocken.
Anfang 2007 häufen sich Berichte über Zah-
lungsausfälle bei US-Hypothekenschuldnern.
Als erstes Kreditinstitut kommt in Deutsch-
land im Sommer 2007 die Mittelstandsbank
IKB ins Schlingern. Sie muss später vom Staat
mit Milliardenaufwand gerettet werden.
Finanzmarktkrise In den Medien ist jetzt von
einer „Hypothekenkrise“ die Rede. Am
9. August 2007 interveniert die EZB am Inter-
bankenmarkt, nachdem es beim Geldhandel
zwischen den Banken zu ernsten Spannungen
kommt. Im Herbst 2007 verschärft sich die La-
ge, die US-Notenbank reagiert mit der ersten
Zinssenkung seit mehr als vier Jahren. Inzwi-
schen ist von einer Finanzmarktkrise die Rede.
Im Frühjahr 2008 wird über die Liquidität bri-
tischer Banken spekuliert, die große amerika-
nische Bank Bear Stearns geht fast Pleite. In
Deutschland gerät mit der HRE ein Banken-
riese ins Schlingern, er muss mit über 100 Mil-
liarden Euro Staatshilfe gestützt werden und
wird am Ende ganz verstaatlicht.
Schock um Lehman Brothers Am 15. Sep-
tember 2008 löst die Pleite der US-Invest-
mentbank Lehman Brothers einen Schock
aus. Die Notenbanken pumpen weltweit Mil-
liarden-Summen in die Geldmärkte, um ei-
nen Finanzkollaps zu verhindern. Die Regie-
rungen legen Rettungspakete für die Kreditin-
stitute auf – die Finanzmarktkrise ist nun eine
„Bankenkrise“. Zur Jahreswende 2008/2009
sinken die Leitzinsen vieler Notenbanken na-
he null Prozent. Viele Staaten beschließen teu-
re Konjunkturmaßnahmen und verstaatli-
chen Banken. In Deutschland steigt der Staat
bei der Commerzbank ein. In vielen Ländern
brechen Nachfrage und Produktion drama-
tisch ein, aus der Finanzkrise ist die schwerste
Wirtschaftskrise seit 1945 geworden.
Athen in Not In dieser Lage entwickelt sich
die Griechenland- und Euro-Krise. Die starke
Verschuldung Griechenlands, das 2001 mit ge-
schönten Zahlen in die Eurozone aufgenom-
men wurde, wird Thema der Finanzmärkte.
Im Februar 2010 stellt die EU-Kommission
Athen unter Aufsicht. Im Mai beschließen die
Eurostaaten ein Rettungspaket mit Hilfen von
110 Milliarden Euro bis 2013, im Gegenzug
muss Athen das hohe Defizit durch strikte
Sparmaßnahmen absenken. Zugleich spannt
die EU einen Rettungsschirm von 750 Milliar-
den Euro mit einem Ausleihvolumen von 240
Milliarden Euro auf, um klammen Ländern
mit Krediten zu helfen. Im Dezember 2010
wird das nach Bankenpleiten kriselnde Irland
mit 85 Milliarden Euro gestützt.
Permanente Rettung Am 11. März 2011 be-
schließen die Regierungschefs der Eurozone
die Aufstockung des Ausleihvolumens des
Rettungsschirms auf 440 Milliarden Euro. Im
Mai billigt die EU eine Nothilfe für Portugal
von 78 Milliarden Euro, Lissabon muss dafür
ein striktes Sparprogramm realisieren. Am
11. Juli 2011 vereinbaren die Finanzminister
der Euro-Gruppe einen permanenten Ret-
tungsschirm für verschuldete Euro-Länder ab
Juli 2013. Beim Gipfel der Euroländer am 21.
Juli wird dann beschlossen, dass sich künftig
auch Banken und Versicherungen an neuen
Griechenlandhilfen beteiligen sollen. Im Au-
gust steigen die Risikozuschläge für italieni-
sche und spanische Staatsanleihen, weil es
Zweifel gibt, ob diese Staaten ihre Schulden
zurückzahlen können. Eine Ratingagentur
stuft die Kreditwürdigkeit der hochverschul-
deten USA herab. Der Bundestag verabschie-
det im September den erweiterten Euro-Ret-
tungsschirm, das Bundesverfassungsgericht
billigt die bisherigen Hilfen. Im Oktober 2011
ist wieder von einer Bankenkrise die Rede: EU
und IWF drängen Institute zu einer Kapital-
aufstockung. Hans Krump ❚
Von einer Katastrophe zur nächsten
Hauptgebäude der IKB in Düsseldorf
FINANZKRISE Nach dem US-Häuserboom kam die Bankenwelt ins Trudeln. Nun zittert Brüssel um verschuldete Euro-Staaten
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Hebel auf den letzten Drücker
SCHULDENKRISE Nach heftiger Diskussion gibt der Bundestag Merkel freies Geleit für Euro-VerhandlungenNicolas Sarkozy Er stellte das Wohl seines
Landes vor das persönliche Glück: Während
Frankreichs Staatspräsident vergangenen
Mittwoch in Frank-
furt bei Kanzlerin
Merkel erfolglos um
die Euro-Rettung
verhandelte, gebar
seine Frau in einer
Pariser Klinik eine
gesunde Tochter. Der
56-Jährige schaute
nur kurz vor dem
Flug bei seiner in den
Wehen liegenden
Gattin im Hospital vorbei. Um so glücklicher
war der frischgebackene Papa,als er am Abend
Mutter Carla Bruni-Sarkozy (43) und das klei-
ne Mädchen, das Giulia heißen soll, wohlbe-
halten in die Arme schließen durfte. Erstmals
wurde damit ein französischer Präsident in sei-
ner Amtszeit Vater. Er empfinde „tiefe Freude“,
bekundete Sarkozy. So lieben ihn die Franzo-
sen, und vielleicht hilft ihm die Geburt auch bei
der Präsidentenwahl 2012. kru ❚
Euro, so viel Kapital könnte für den Ret-
tungsfonds EFSF mobilisiert werden, um ver-
schuldete Staaten der Eurozone zu retten. In
Ziffern: 2.000.000.000.000. EU-Diplomaten
haben laut britischem „Guardian“ vor dem
Brüsseler EU-Gipfel solche Zahlen genannt.
Der EFSF, der derzeit 440 Milliarden Euro zur
Verfügung stellt, könnte demnach künftig
wie eine Versicherung funktionieren.
KOPF DER WOCHE
Eine Tochter
für Sarkozy
ZAHL DER WOCHE
2 Billionen
ZITAT DER WOCHE
»Die mehrfach
zitierten
Guidelines sind
Richtlinien.«
Norbert Lammert, Bundestagspräsident,
bei der Rettungsschirmdebatte am Freitag in ei-
nem Appell an Abgeordnete, an „den deutsch-
sprachigen Teil der Bevölkerung“ zu denken
Das Parlament
Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH
60268 Frankfurt am Main
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www.das-parlament.deBerlin, Montag 24. Oktober 2011 61. Jahrgang | Nr. 43 | Preis 1 € | A 5544
JUBILÄUM FÜR CLUB
Die Deutsche Parlamentarische Gesellschaft
feiert ihre Gründung vor 60 Jahren SEITE 8
ÄRGER UM TROJANER
Der Deutsche Bundestag debattiert über
eine staatliche Spionagesoftware SEITE 4
I
m Fahrstuhl kann einen schon mal
ein diffuses Gefühl von Unwohlsein
befallen. Es ging abwärts, von der
dritten Etage des Marie-Elisabeth-
Lüders-Hauses neben dem Reichs-
tagsgebäude – ins Erdgeschoss –, als
ein Abgeordneter mit Sorgenfalten auf der
Stirn einer ebenso angestrengt blickenden
Kollegin mitteilte: „Es wird einem ganz
mulmig bei der Verantwortung, die auf un-
seren Entscheidungen lastet.“ Es war noch
früh am Morgen des vergangenen Donners-
tags, am Sonntag sollte der EU-Gipfel zur
Schuldenkrise über Neuregelungen des
Euro-Rettungsschirms EFSF abschließend
beraten. Vorher sollte der Haushaltsaus-
schuss des Bundestages, am besten noch am
selben Tag, dazu sein Einverständnis und
anschließend Angela Merkel am Freitag ei-
ne Regierungserklärung zum Thema geben.
Erklärung abgesagt Aber die Sorge davor,
Beschlüsse zu fassen, die letztlich doch dazu
führen könnten, dass Deutschland für mehr
als die bisher vereinbarten 211 Milliarden
Euro am EFSF bürgen müsse, ließ die Abge-
ordneten nicht los. Am Ende sagte Merkel ih-
re Erklärung sicherheitshalber ab. Entzündet
hatte sich die Debatte, die das politische Ber-
lin in der vergangenen Woche beherrschte,
an einem Papier aus dem Hause von Finanz-
minister Wolfgang Schäuble (CDU). Darin
enthalten: der Entwurf für Leitlinien zur
Neuregelung des milliardenschweren Euro-
Rettungsschirms, über den der Haushaltsaus-
schuss vor dem Gipfel beraten sollte. Oder
besser: beraten musste. Denn so sieht es das
Gesetz über die Beteiligung Deutschlands
am EFSF vor: Bei der Abstimmung darüber
wurde auch ein stärkeres Mitspracherecht des
Bundestages beschlossen und als Ausdruck
eines „selbstbewussten Parlaments“ gefeiert.
Merkel braucht also das Einverständnis des
Ausschusses, um auf dem EU-Gipfel hand-
lungsfähig zu bleiben.
Teilkasko-Modell Einzige Schwierigkeit:
Was verbarg sich hinter Äußerungen von
Merkel und Schäuble, man wolle die Instru-
mente des EFSF effektiver nutzen? Die nur
vage formulierten Leitlinien ließen zu viele
Fragen offen. Schließlich drehte sich die
Diskussion nur noch um ein Schlagwort:
die „Hebelwirkung“. Darum, ob dieser He-
bel in den Leitlinien enthalten sein soll und
ob er eventuell die Rechte des Parlaments
aushebelt. So sieht es nämlich die Opposi-
tion, die am Freitag noch versucht hatte zu
erreichen, den Bundestag als Ganzes über
die Leitlinien abstimmen zu lassen. Ein ent-
sprechender Antrag der Grünen (17/7410)
fand jedoch keine Mehrheit.
Bei dem von der Bundesregierung favori-
sierten Hebel-Modell geht es darum, mehr
Anreize für den Kauf von Staatsanleihen
von Euro-Ländern zu schaffen. Das Ausleih-
volumen des EFSF selbst von
440 Milliarden Euro sowie das Garantievo-
lumen der Euro-Länder von 780 Milliarden
Euro soll aber nicht weiter erhöht werden.
Deutschland favorisiert eine Art Versiche-
rungsmodell, das zum Einsatz käme, wenn
hoch verschuldete Staaten neue Anleihen
ausgeben, um sich frisches Geld zu besor-
gen. Zwar kann auch der EFSF solche Staats-
anleihen aufkaufen, beim Kredithebel soll
jedoch darauf verzichtet werden. Statt des-
sen sollen andere Investoren die Schuld-
scheine kaufen. Um genügend Interessen-
ten anzulocken, könnte der EFSF mit einer
Garantie das Ausfallrisiko bis zu einer ge-
wissen Grenze selbst tragen. Nach dem Teil-
kasko-Modell würde der EFSF-Fonds nur ei-
nen Teil der Anleihen kriselnder Euro-Län-
der und nicht 100 Prozent absichern. Auf
diese Weise könnten die Finanzhilfen ver-
vielfacht werden. Von bis zwei Billionen
Euro war die Rede.
Verlustrisiko Zwar machte das mulmige
Gefühl über die Risiken für die deutschen
Steuerzahler, nicht vor den Türen der Koali-
tionsfraktionen Halt. Doch am lautesten
empörte sich die Opposition. Thomas Op-
permann, Erster Parlamentarischer SPD-
Fraktionsgeschäftsführer, sagte in der De-
batte am Freitag, die Leitli-
nien seien nun der Ort, wo
aus Milliarden plötzlich Bil-
lionen werden. Das berühre
das Verlustrisiko und deswe-
gen müsse die Debatte darü-
ber öffentlich geführt wer-
den. Jürgen Trittin, Frakti-
onsvorsitzender von Bünd-
nis 90/Die Grünen betonte,
man werde um die Hebe-
lung der Mittel nicht um-
hinkommen, da es Anzei-
chen gebe, dass die Spekula-
tionen auch gegen Spanien und Italien zu-
nehmen werden. Dies dürfe aber nicht
hinter verschlossenen Türen eines Aus-
schusses passieren. Roland Claus stellte für
Die Linke fest, in Europa werde derzeit ge-
zockt, denn Hebel heiße nichts anderes, als
durch Beteiligung am spekulativen Finanz-
markt aus einem Euro drei zu machen.
„Theater“ kritisiert Die Regierung brau-
che kein „solches Theater der Opposition“,
es werde künstlich mehr in die Leitlinien hi-
neininterpretiert, entgegnete der CSU-
Haushälter Bartholomäus Kalb. Sein FDP-
Kollege Otto Fricke versuch-
te, die Gemüter im Parla-
ment zu beruhigen. Welche
Veränderungen es auch
künftig geben werde, „eine
Erhöhung des Risikos für
den deutschen Steuerzahler
wird es nicht geben“, be-
tonte Fricke.
Im Anschluss an diese De-
batte traf sich der Haus-
haltsausschuss nochmals
zu einer mehrstündigen Sit-
zung und stimmte den Leit-
linien schließlich zu. Angaben zum um-
strittenen Kredithebel enthalten diese
nicht. Auf dem EU-Gipfel am Mittwoch sol-
len die ergänzenden Details für die Leitli-
nien beschlossen werden. An diesem Tag
wird auch Angela Merkel ihre Regierungs-
erklärung nachholen – ob in Ruhe, wird
sich zeigen. Claudia Heine ❚
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Gutes Fressen: Der Bär – im Bild die bekannte Statue vor der Frankfurter Neuen Börse – hat Appetit auf den Euro. Die Politik will ihm das vermiesen.
»Eine Erhöhung
des Risikos für
den deutschen
Steuerzahler
wird es nicht
geben.«
Otto Fricke (FDP)
IN DIESER WOCHE
INNENPOLITIK
Landärzte Die Regierung verteidigt ihr Kon-
zept gegen Kritik des Bundesrates Seite 6
WIRTSCHAFT & FINANZEN
Rüstungsexporte Streit um Lieferungen an
nichtdemokratische Staaten Seite 9
EUROPA UND DIE WELT
Rohstoffe Die Versorgung für die deutsche
Wirtschaft soll gesichert bleiben Seite 11
KULTUR UND MEDIEN
Lutherjahr 2017 Auch die Politik bereitet
sich auf das Jubiläum vor Seite 13
MIT DER BEILAGE
APuZAus Politik und Zeitgeschichte61. Jahrgang · 43/2011 · 24. Oktober 201150 Jahre Anwerbeabkommenmit der Türkei
Haci-Halil Uslucan
Wie fremd sind uns „die Türken“?
Stefan Luft
0G=J@=H�QJ@�(KJŃEGPġ�!AQPO?D�PÐNGEO?DA�1DAIAJ
Jan Hanrath
Vielfalt der türkeistämmigen Bevölkerung
Aysel Yollu-Tok
Lage der Türkeistämmigen auf dem Arbeitsmarkt
Sven Rahner
Fachkräftebedarf und Zuwanderung
Christoph Reinprecht
Verwundbarkeit des Alterns in der Migration
Helen Baykara-Krumme · Daniela Klaus · Anja Steinbach
"HPANJ�(EJ@��AVEADQJCAJ EJ "EJS=J@ANANB=IEHEAJ
Paul Mecheril
4ENGHE?DGAEP�O?D=BBAJġ�&JPACN=PEKJ�=HO�!EOLKOEPER
Fast vier Jahre nach Beginn der Finanzkrise und
im zweiten Jahr der Euro-Krise steht Europa vor
seiner wohl größten wirtschaftspolitischen Prü-
fung. Es gilt, die Schuldenlast in den Griff zu be-
kommen, die Gemeinschaftswährung dauer-
haft zu stabilisieren, die Finanzmärkte effekti-
ver zu kontrollieren. Dazu muss ein ganzes Bün-
del von Maßnahmen auf den Weg gebracht
werden, zuvorderst eine schnelle Rettung für
das von der Staatspleite bedrohte Griechen-
land. Außerdem ist die Europäische Union gut
beraten, sich schon jetzt gegen den Bankrott
weiterer Pleitekandidaten zu wappnen. Auch
geht es darum, die Folgen für die Banken zu be-
denken, wenn es in klammen Nationen zu ei-
nem Schuldenschnitt kommen sollte.
All das kostet Geld, unvorstellbar viel Geld.
Schon deshalb stehen die 27 Staats- und Regie-
rungschefs der EU und mit ihnen deren Heimat-
parlamente vor einer Aufgabe von historischer
Dimension.
Doch birgt auch diese Krise eine Chance: Es
könnten endlich Strukturen geschaffen werden,
die dem sich zunehmend festigenden Eindruck
entgegentreten, die Finanzmärkte trieben die
Politik vor sich her. Wenn das gelänge, erwüch-
se daraus in den Bevölkerungen der wohlha-
benderen EU-Länder gewiss auch mehr Ver-
ständnis für die Nöte der ärmeren Nachbarn.
Eben darum ist es so wichtig, dass die Parla-
mente vor allem der 17 Euro-Nationen die We-
ge aus der Krise diskutieren, damit die Proble-
me und möglichen Lösungsansätze in die Öf-
fentlichkeit tragen und eine Bühne für eine brei-
te gesellschaftliche Debatte bereiten.
In Deutschland hat das Bundesverfassungsge-
richt dem Parlament die Zuständigkeit in dieser
Sache ausdrücklich bestätigt. Die Richter haben
dem Bundestag ermöglicht, ein repräsentatives
Gremium wie den Haushaltsausschuss damit zu
befassen, um – absehbar notwendig – reakti-
onsschnell handeln zu können.
Wie vorausschauend dieses Urteil war, hat die
vergangene Sitzungswoche gezeigt. Trotz der
Differenzen zwischen Koalition und Opposition
wurde am Ende unter Wahrung der Souveräni-
tät des Hohen Hauses gearbeitet und gleichzei-
tig ein Zeichen parlamentarischen Selbstbe-
wusstseins gesetzt.
Jetzt ist es eine Frage internationalen Verhand-
lungsgschicks, wie entschlossen der Euro geret-
tet werden kann. Eines ist gewiss: Scheitern
darf das Projekt keinesfalls.
EDITORIAL
Scheitern
verboten
VON JÖRG BIALLAS
Thema: Finanzkrise
Harte Zeiten für Europas Politiker SEITE 1-3
2 MENSCHEN UND MEINUNGEN Das Parlament – Nr. 43 – 24. Oktober 2011
Für den Rettungsschirm EFSF ist mitt-
lerweile eine „Hebelung“ auf einen Billio-
nenbetrag die Rede. Glauben Sie, dass im-
mer größere Rettungspakete den Euro sta-
bilisieren können?
Es geht nicht in erster Linie um die Größe
der Rettungsschirme. Es geht vielmehr um
die Methode, wie wir Schutzwälle errichten,
um die europäischen Banken und die ge-
meinsame europäische Währung abzusi-
chern. Diese Schutzmechanismen sollen
dabei helfen, dass keine Dominoeffekte
entstehen, also die finanziellen Probleme
eines überschuldeten Landes auf das ande-
re übergreifen. Dafür ist der Rettungsschirm
EFSF ein wichtiges Instrument, aber nicht
das einzige.
Welche Instrumente gibt es noch?
Ein Instrument ist sicherlich die Rekapitali-
sierung von Banken, also die Vergrößerung
des Eigenkapitals, mit dem Banken Kredit-
ausfälle abfedern können. Auf längere Sicht
geht es auch um eine bessere Regulierung
des Finanzsektors. Und natürlich ist das
Ziel, durch Strukturveränderungen in über-
schuldeten Staaten für mehr Wettbewerbs-
fähigkeit zu sorgen, glaubwürdige Zu-
kunftsperspektiven für die Wirtschaft zu er-
zeugen, Staatsschulden abzubauen und ih-
re Neuaufnahme grundsätzlich zu
begrenzen.
Frankreich will den Rettungsschirm
über die Europäische Zentralbank ausstat-
ten, Deutschland pocht auf die Geldwert-
stabilität: Welche Perspektive hat der
Euro, wenn selbst die beiden größten
Euro-Länder sich nicht einig sind?
In einer solchen schwierigen Frage ist es nur
zu natürlich, dass man von unterschiedli-
chen Positionen ausgehen muss. Ich bin
aber sicher, dass die Notwendigkeit einer Ei-
nigung zu einem vernünftigen Kompromiss
führen wird. Die EU, insbesondere die EZB,
muss für Geldwertstabilität stehen, gleich-
zeitig stärkt eine gemeinsame Währung den
Binnenmarkt, sichert Arbeitsplätze und
nützt für unsere Rolle in der Welt.
Ist Europa mit seinen Institutionen
und der Mitsprache der nationalen Parla-
mente zu langsam für eine Krise wie die
Finanzkrise?
Die Institutionen der EU zu stärken wird nur
über eine Ausdehnung der Gemeinschafts-
methode mit Mehrheitsabstimmungen
möglich sein. Die parlamentarische Mitwir-
kung durch das Europäische Parlament und
die nationalen Parlamente gegenüber ihrer
jeweiligen Regierung ist notwendig. Dabei
müsste es aber so gehandhabt werden, dass
die Handlungsfähigkeit Europas nicht ge-
fährdet wird. Deshalb ist es auch gut, dass
der Bundestag auch für eilige Fälle den Neu-
ner-Ausschuss schnell besetzt.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt:
„Scheitert der Euro, scheitert Europa.“ Tei-
len Sie diese Auffassung?
Bei einem Scheitern des Euro müssten wir
mit einer Weltwirtschaftskrise mit katastro-
phalen Folgen, wie der Vernichtung von
Millionen von Arbeitsplätzen, rechnen.
Wenn der Euro scheitert, würde auch der eu-
ropäische Binnenmarkt – und damit die Ba-
sis des europäischen Erfolgs – am Ende sein.
Europa würde scheitern und belanglos wer-
den.
Setzt die Politik eigentlich die Regeln?
Oder ist sie Getriebene der Finanzmärkte?
Wir dürfen keine Politik betreiben, die öko-
nomisch unsinnig ist. Auf der anderen Sei-
te kann es nicht sein, dass der Finanzsektor
nicht in gleicher Weise geregelt ist wie an-
dere Wirtschaftsbereiche. Wir müssen vo-
rankommen mit der Regulierung des Fi-
nanzmarktes, übrigens nicht nur auf euro-
päischer, sondern auch auf globaler Ebene.
Deshalb ist das G-20-Treffen der wichtigs-
ten Industrie- und Schwellenländer Anfang
November in Cannes von so großer Bedeu-
tung.
Die Euro-Staaten wollen einen Schul-
denschnitt für Griechenland. Reicht das,
um dem Land auf die Beine zu helfen?
Es reicht nicht aus, aber es ist eine wichtige
Bedingung. Wir sehen im Falle Griechen-
lands, wie die Rückzahlung von Schulden
und die Finanzierung von Zinsen ein Land
ökonomisch regelrecht abwürgen kann.
Wichtig ist, dass die wirtschaftliche Ent-
wicklung in Griechenland in Gang gesetzt
wird. Dazu gehören entsprechende Struk-
turreformen, Privatisierungen von Staatsun-
ternehmen und die Öffnung von Branchen
für den Wettbewerb. Außerdem müssen die
europäischen Mittel vernünftig eingesetzt
werden: 16 Milliarden Euro stehen den
Griechen noch aus den Europäischen Struk-
turfonds zu. Diese Mittel müssen genutzt
werden für mehr Wettbewerbsfähigkeit.
Martin Schulz, der Fraktionsvorsitzen-
de der Sozialdemokraten im Europaparla-
ment, hat an dieser Stelle in der vergan-
genen Ausgabe gesagt, er wolle eine euro-
päische Wirtschaftsregierung, aber nicht
die „Wirtschaftsregierung von Sarkozy
und Merkel“. Was wollen Sie?
Wir brauchen Entscheidungsfähigkeit und
eine sinn